Als zweiten Streich der Release-Herbstoffensive seitens THE EPICUREAN gibt es nun ein Live-Album der sympathischen Exil-Russen und Wahl-New-Yorker von POST SCRIPTVM auf die Ohren: "Séance" präsentiert eine Werkschau aus Auftritten der vergangenen zehn Jahre, aufgenommen in diversen Lokalitäten quer über den Globus und, so die Labelauskunft, "carefully compiled to be listened to as a monolithic body of work", will heißen, die einzelnen Stücke gehen nahezu fließend ineinander über und erzeugen so in der Summe einen kompakten Gesamteindruck beim Hörer, wie er ihn für gewöhnlich eben von einem Konzertbesuch mitnimmt. Erklärte Intention von "Séance" ist es, einen angemessenen Überblick über "the full spectrum of mind states and atmospheres conjured by PS" zu vermitteln, und das, so sei gleich einleitend verraten, gelingt der Scheibe durchaus bravourös.
Mit gutem Grund mag man freilich die Frage in den Raum stellen, welche Legitimation Live-Alben in einem "Knöpfchendreher-Genre" wie dem (Post-)Industrial-/PE-/Noise-Sektor eigentlich haben, kommt doch der überwiegende Teil des musikalischen Materials eh von der Konserve und wird auf der Bühne lediglich manuell abgerufen. Die Live-Darbietung selbst rechtfertigt sich für das anwesende Publikum freilich immer durch die visuelle Dimension, die zur akustischen hinzutritt, und den Künstler selbst, seine spezielle Performance sowie Bildprojektionen, Videoeinspielungen und dergleichen mehr umfasst. Dieser dimensionale Mehrwert, der das rezeptive und interpretatorische Spektrum des Hörers bzw. Zuschauers in der Live-Situation maßgeblich erweitert, fällt bei deren akustischer Konservierung wiederum komplett weg, was die Frage aufwirft, ob so am Ende nicht einfach nur eine qualitativ minderwertigere Version des Ausgangsmaterials übrigbleibt, deren Konservierung auf Tonträgern im Grunde genommen überflüssig ist? So könnte man raisonieren und träfe damit durchaus die Realität zahlreicher kursierender Liveaufnahmen, zumal – s. o. – in einem Genre, das aus intrinsischen, nämlich technischen und konzeptuellen, Gründen nicht eben durch ein hohes Maß an Improvisations- und Variationsfähigkeit gekennzeichnet ist. Doch sind es wie immer die Ausnahmen, die die Regel bestimmen – und eine solche liegt uns mit "Séance" vor, denn hier zeigt sich exemplarisch, dass es gerade die Nuancen, die kleinen Weglassungen und Ergänzungen sind, die eine Live- von einer Studioversion unterscheiden und so zu einer empfindlichen Faszinationssteigerung (freilich auch zu ihrem Gegenteil) beitragen können.
POST SCRIPTVM live @ "Epicurean Escapism II", Berlin 2013
Die LP wartet mit Material von sämtlichen offiziellen POST-SCRIPTVM-Werken der letzten, knapp 15 Jahre auf, angefangen beim Debüt "Gauze" von 2002 bis hin zum letzten Studioalbum "Benommenheit" von 2014. Von Anfang an zeichneten sich POST SCRIPTVM durch eine bemerkenswerte Vielfalt in der musikalischen Ausdrucksform aus und dem trägt das Album Rechnung, indem es einen Bogen spannt "from the death-ambient claustrophobia of "Corners" and "Etherized Erosion", the hypnotizing analog textures of "Tarantula Pattern" and "The Binding", to the violent power electronics of "Exacerbation" and "Upon Decadent Scum"". Besonders interessant sind die diversen Abweichungen von den Originalversionen, wenn es um sprachliche Einspielungen geht, wie z. B. das wiederkehrende "Heute, morgen, übermorgen", um das das, in der Live-Version deutlich rauher und harscher als auf "Marginal Existence" tönende Stück "Etherized Erosion" unter anderem ergänzt wurde, und die endlosen, auf deutsch vorgetragenen Zahlenkolonnen, die sich plötzlich im – der Version auf "Raspad" ansonsten sehr ähnlichen – Track "Ruins Of Man" finden. Die umfangreiche, dem Albumtitel "Séance" Rechnung tragende und mutmaßlich aus dem spiritistischen Kontext stammende Spracheinspielung auf "The Binding" vom Debütalbum hat, so scheint es dem Rezensenten zumindest, mit der Studioversion rein gar nichts mehr zu tun, verleiht dem Track zusammen mit der bedrohlichen Ruhe, die er atmet, aber eine hypnotisch-beklemmende Sogwirkung, die das Original nicht erreicht. Dies gilt auch und gerade für das Einstiegsstück "Tarantula Pattern", dessen unbehagliche, klaustrophobische Atmosphäre eine weitaus intensivere Sogwirkung entfaltet, als dies auf dem Ursprungsalbum "Grey Eminence" von 2010 der Fall ist. "Abortion Of Memory", eines der Lieblingsstücke des Verfassers vom selben Album, fällt im Vergleich zur Studioversion hingegen ein wenig ab und wirkt ungeachtet seines etwas höheren Aggressivitätslevels insgesamt monotoner – zu allem Überfluss hat man sich auch noch zur Streichung jenes charmant roboterhaften Lachsack-Gegackeres entschieden, das die bizarre Gesamtatmosphäre des Stücks zusätzlich steigerte: nicht immer ist weniger eben mehr.
Insgesamt betrachtet kann die Auswahl, aus der sich das vorliegende Liederkränzlein zusammensetzt, indes nicht anders als rundum gelungen bezeichnet werden: Sie bietet über weite Strecken eine ebenso spannende wie faszinierende perspektivische Erweiterung hinsichtlich des POST SCRIPTVM'schen Musikschaffens und kann dem, der noch nicht damit vertraut ist, mit Fug & Recht als repräsentative und aussagekräftige Einführung ins Gesamtopus dienen. In der Zusammenschau mit der extrem ansprechenden, qualitativ überdurchschnittlich hochwertigen Covergestaltung, wie man sie aus dem Hause THE EPICUREAN mittlerweile ja gewohnt ist, gibt "Séance" (übrigens auch in einer Special-Edition mit Bandlogo-Patch erhältlich) ein kleines Schmuckstück für jede Plattensammlung ab. Ach ja: Auch wenn es sich durchweg um Livemitschnitte handelt, sind Publikums- und sonstige Hintergrundgeräusche praktisch vollständig herausgefiltert, was dem Hörvergnügen freilich mehr als förderlich ist und zur Folge hat, dass der, der nicht weiß, dass es sich um ein Live-Album handelt, entsprechendes bestenfalls am Ende des Abschlusstracks "Exacerberation" ahnt, wo für einige wenige Sekunden der Applaus eines begeisterten Publikums erklingt. – Zu recht!
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Zusammenfassung
Bemerkenswerte Live-Werkschau der altgedienten Post-Industrial-Recken, die durch gelungene Titel-Auswahl, Abwechslungsreichtum, perfekte Produktion und ebenso hochwertige wie geschmackvolle Covergestaltung punkten kann. Für Kenner wie Neueinsteiger eine klare Empfehlung!
Inhalt
01: Tarantula Pattern (5:21)
02: Upon Decadent Scum (4:06)
03: Etherized Erosion (3:58)
04: Ruins Of Men (6:06)
05: The Binding (3:55)
06: Abortion Of Memory (5:41)
07: Corners (4:37)
08: Exacerberation (5:26)