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Susanne

Gottfried Benn

Reich des Geistes


Gottfried Benn
Genre: Literatur
Wörter: 1912
Erstellt: 01.04.2006
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Eine der schillerndsten Persönlichkeiten des deutschen Expressionismus mit entscheidendem Einfluß auf die nachfolgende Dichtergeneration ist ohne Zweifel der Dichter, Schriftsteller und Arzt Gottfried Benn (1886-1956). Fällt es heutzutage (wenn man nicht näher mit der Materie seiner leisen, doch gewaltigen und anstoßenden Kunst vertraut ist) auch schwer, Gottfried Benn unvoreingenommen zu betrachten - wer ihn nicht aus den Deutsch-Kursen der Oberstufe kennt oder durch unsägliche Vertonungen wie beispielsweise die von Das Ich, der kennt zumindest eine der subjektiven, stark bewertenden Fernsehdokumentationen - so ist es trotzdem lohnenswert, einen Lichtstrahl auf diesen bedeutenden Mann, seinen ambivalenten Charakter und sein nihilistisches, menschenverachtendes, selbstkritisches und wegweisendes Werk zu lenken.


Abriß einer Biographie


Gottfried Benn wird am 2.5.1886 in Mansfeld (Kreis Westprignitz, Brandenburg) als Sohn des protestantischen Pfarrers Gustav Benn geboren. Von 1886 bis 1903 besucht er das Gymnasium in Frankfurt/Oder und macht dort sein Abitur. Auf den Wunsch seines Vaters hin studiert er daraufhin zwei Jahre lang Theologie und Philologie in Marburg und Berlin, um dann von 1905-1910 seinen eigenen Wunsch zu erfüllen: Das Medizin-Studium an der militärärztlichen Kaiser-Wilhelm-Akademie in Berlin. Zeitgleich absolviert er seine Dienstzeit beim 2.Garderegiment. Von 1910 bis 1911 ist Benn Unterarzt in der Charité, um 1912 schließlich zu promovieren. Zunächst ist Benn aktiver Militärarzt, dann wird er Assistenzarzt am Krankenhaus Charlottenburg-Westend. Er führt annähernd 300 Sektionen aus. Zu dieser Zeit ist er mit der großartigen Dichterin Else Lasker-Schüler liiert. 1912 erscheint sein Erstlingswerk, das gleichzeitig sein berühmtestes Werk sein sollte: „Morgue und andere Gedichte“. Dieses „medi-zynische“ Werk erschüttert durch seine provokanten Wortwahlen die konventionellen Vorstellungen von Lyrik und verstört die Leser durch den krassen, desillusionären Realismus. Die bis dahin in der Lyrik gängigen Weltbilder und auch die gesellschaftlichen Moralvorstellungen werden negiert; Benns Menschenverachtung wird schon hier in Zeilen wie „Die Krönung der Schöpfung, der Mensch, das Schwein“ („Der Arzt I“, Morgue) deutlich. 1913 erscheint dann noch „Söhne. Neue Gedichte“, bevor er 1914 zuerst als Schiffsarzt, dann als Sanitätsarzt im Kriegsdienst, arbeitet. Ebenfalls 1914 heiratet er die Schauspielerin Edith Osterloh, eine wohlhabende, weitgereiste und acht Jahre ältere Frau aus einer Dresdener Patrizierfamilie. 1915 wird ihre Tochter Nele geboren. 1916 erscheint dann „Gehirne. Novellen“; 1917 die Gedichtesammlung „Fleisch. Gesammelte Lyrik“ (die seine menschenverachtende Reaktion auf die Greuel des Krieges reflektiert ). In diesem Jahr gelingt es Benn endlich, seinen Traum zu erfüllen, indem er verabschiedet wird und eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin eröffnet, die er bis 1935 führt. 1922 stirbt seine Frau Edith in Jena; im gleichen Jahr erscheinen die „Gesammelte(n) Schriften“ – das letzte Werk aus Benns Hand, das als rein expressionistisch angesehen werden kann. Er wendet sich der Essayistik zu, wobei er sich auf geschichtsphilosophische Zeitkritik und den Nihilismus konzentriert. 1926 folgt „Schutt, Betäubung, Spaltung. Neue Gedichte“, ein Werk, das einmal mehr die Apathie des manisch vor Menschen, Eindrücken und Unterhaltung Flüchtenden darstellt und für seine freiwillige Eremitage inmitten der Gesellschaft steht. 1928 wird er inmitten dieser von ihm verachteten Gesellschaft Mitglied des Berliner Pen-Clubs – der Mann, der sein Leben immer als ein „Doppelleben“ darstellte, sprach diesem Begriff einmal mehr Bedeutung zu. 1931 wird das von Paul Hindermith vertonte Oratorium „Das Unaufhörliche“ uraufgeführt, das von der Kritik als zu nihilistisch (!) abgelehnt wird. 1932 wird Benn Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, was er folgendermaßen kommentiert: „Die Wahl war damals eine außerordentliche Ehre, die größte, die einem Schriftsteller innerhalb des deutschen Sprachraums zuteil werden konnte.“ (aus „Doppelleben“, 1950). Im Gegensatz zu vielen anderen Künstlern verläßt er die Akademie übrigens nicht, als Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wird. Vielmehr erhofft sich Benn hier noch die Wiedergeburt der deutschen Nation. 1933-34 bringt die Deutsche Verlagsanstalt Benns Schriften, die den „Neuen Staat“ unterstützen sollen, heraus: „Der Neue Staat und die Intellektuellen“ sowie „Kunst und Macht“. Benns immanente Bedeutung als Kunstpolitiker wird hier zum ersten Mal deutlich herausgestellt – fortan soll er, der Misanthrop, gegen den Strom schwimmende Intellektuelle und Gesellschaftskritiker, nicht mehr genannt werden, ohne nicht auch seine Verknüpfungen zu den politischen Strömungen dieser Tage zu erwähnen, bzw. Benns Werk auf diese Verknüpfungen zu reduzieren. Jedoch sind seine politischen und kunstpolitischen Aussagen keineswegs polarisierend oder rein politisch auszulegen (das behaupten nur oberflächliche Beobachter), sondern sprechen vielmehr gegen den Zeitgeist derjenigen, die sich zu dieser Zeit als subversive, intellektuelle Elite empfinden – somit ist Benn ein Kritiker der Kritiker, was nicht gleichzusetzen ist mit einem geradlinigen Befürworter des zu kritisierenden Umstandes. Er schreibt in „Der Neue Staat und die Intellektuellen“ beispielsweise: „Der neue Staat ist gegen die Intellektuellen entstanden. Alles, was sich im letzten Jahrzehnt zu den Intellektuellen rechnete, bekämpfte das Entstehen dieses neuen Staates. Sie, die jeden revolutionären Stoß von Seiten des Marxismus begrüßten, ihm neue Offenbarungswerte zusprachen, ihm jeden inneren Kredit einzuräumen bereit waren, betrachteten es als ihre intellektuelle Ehre, die Revolution vom Nationalen her als unmoralisch, wüst, gegen den Sinn der Geschichte gerichtet, anzusehen. Welch sonderbarer Sinn und welch sonderbare Geschichte, Lohnfragen als den Inhalt aller menschlichen Kämpfe anzusehen.“ Wenn er sich selbst auch weit entfernt von seinen Mitmenschen sieht, formt er doch die Worte, die dieser Zeit meinungsbildend für einen weiten Kreis von Befürwortern und Kritikern um Benn sind – er bewegt nicht kleine Wellen, sondern löst riesige Erdbeben aus, die weiten Nachhall finden. Nicht nur er beeinflußt politische Meinungen, auch ist er sich bewußt, daß sein bis dato meist autarkes Leben plötzlich von politischen Geschehnissen gelenkt wird – nach dem Röhm-Putsch schreibt er am 27.8.1934 an Ida Seidel: „Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich und äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.“ Benns anfängliche Begeisterung für den „neuen Staat“ bröckelt zunehmend, vor allem, weil er selbst nicht der imaginierte Künstlertypus sein kann, der verlangt wird – Benn denkt zu sehr selbst; steht zu sehr zwischen den Stühlen mit Namen Neuerung und Reaktion. 1935 gibt Benn seine Praxis auf und läßt sich als Oberstabsarzt in Hannover reaktivieren – diese Zeit scheint jedoch nur wie ein verschleierter Laudanum-Traum an ihm vorbeizuziehen. Er erlebt die Welt um sich herum mit einer Lethargie, die ihn bewegungsunfähig werden läßt - er, der immer Veränderungen für sich und das Leben anstrebte, immer kämpfte, scheint nun völlig zu resignieren. Im Mai 1936 denunziert ein Artikel in der SS-Wochenzeitung „Das schwarze Korps“ seine Dichtung als „Perversion“ und „widernatürliche Schweinerei“; zu seinem 50. Geburtstag erscheint die „Sammlung ausgewählter Gedichte“, die aber beanstandet wird – im Dezember 1937 erscheint eine zweite, „gereinigte“ Fassung. In der Folgezeit seiner „Inneren Emigration“ hält Benn dem „Reich der Macht“ das autonome „Reich des Geistes“ entgegen. Er läßt sich noch 1937 nach Berlin versetzen, arbeitet als Versorgunsgarzt im Oberkommando der Wehrmacht als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen. 1938 heiratet er Herta von Wedemeyer. Kurz darauf wird er aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Benn wird abermals in seinem Menschenbild bestätigt – er entfernt sich in den folgenden Kriegsjahren immer mehr von der Lebenswelt um sich herum, lebt seine „Innere Emigration“. In Briefen an Bekannte sieht er schon früh den verlorenen Krieg voraus. 1943 schließlich wird die Wehrdienststelle, in der Benn zuletzt als Oberarzt tätig war, nach Landsberg a. d. Warthe verlegt – Benn läßt derweil illegal und privat „22 Gedichte 1936-1943“ drucken und verteilt diese an enge Bekannte. 1945 flieht er nach Berlin, nimmt seine Praxisarbeit wieder auf. Ein weiterer Schicksalsschlag trifft ihn, als seine Frau sich, weil sie ohne Nachricht von ihm bleibt, in Neuhaus a. d. Elbe das Leben nimmt. 1946 wird Benn 60 und tröstet sich mit einer neuen Heirat – er ehelicht die 27 Jahre jüngere Dr. Ilse Kraul. Nach einer für ihn langen Zeit ohne Veröffentlichungen erscheinen die „Statischen Gedichte“ in der Schweiz und das Jahr 1949 schließlich wird im Allgemeinen das „Benn-Jahr“ genannt, da nun „Der Ptolemäer“, „Statische Gedichte“, „Ausdruckswelt“ und „Trunkene Flut“ in Deutschland erscheinen. Benn selbst wirkt ruhiger, scheint ein wenig Frieden in sich selbst gefunden zu haben und versäumt es nicht, ein wenig typisch belustigten Benn-Zynismus bezüglich des Wirbels um ihn herum zu verbreiten: „Das ist also mein Comeback nach 15 Jahren. Nun geht also das Gefrage wieder los: ‚Haben sie was damit zu tun?’ ‚Ist das ein Verwandter von Ihnen?’ ‚Das hängt wohl gar nicht mit Ihnen zusammen?’ Ich antworte immer, das ist mein Urgroßvater, den sie wieder ausgebuddelt haben.“ (an Frank Maraun, 7.3.1949). Seine Spätwerke hingegen beeinflussen trotz Benns Zurückziehen vor der Öffentlichkeit („Wenn man die letzten 15 Jahre von den Nazis als Schwein, von den Kommunisten als Trottel, von den Demokraten als geistig Prostituierter, von den Emigranten als Überläufer, von den Religiösen als pathologischer Nihilist öffentlich bezeichnet wird, ist man nicht so scharf darauf, wieder in die Öffentlichkeit einzudringen…“) maßgeblich die Nachkriegslyrik. 1950 erscheint „Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen“ - Benns Autobiographie, in der er unter anderem seine Haltung zum Nationalsozialismus rechtfertigt; 1951 die Gedichtsammlung „Fragmente“. Im August hält Benn in Marburg seinen später so berühmt gewordenen Vortrag „Probleme der Lyrik“; kurze Zeit später wird ihm der Georg-Büchner-Preis verliehen, was ihn - im Gegensatz zu dem ihm ein Jahr später verliehenen Bundesverdienstkreuz - mit Stolz und Freude erfüllt. 1953 erscheint dann der Gedichtband „Destillationen“; „Die Stimme hinter dem Vorhang“ wird in Köln aufgeführt. 1954 spricht Benn im Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart den Vortrag „Altern als Problem für Künstler“ und liest im gleichen Jahr in der Bremer Böttcherstraße aus seinem Werk. Seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten soll „Soll die Dichtung das Leben bessern“ sein - am 7. Juli 1956 stirbt Gottfried Benn in Berlin an Krebs.


Fleischwerdung


Rückblickend bleibt zu bemerken, daß Benns Werk nicht nur ein wichtiges und revolutionäres Werk seiner Zeit war (welches abseits der ästhetisch-künstlerischen Vollkommenheit auch immer konventionelle Vorstellungen und Weltanschauungen erschütterte), sondern bis in die heutige Zeit an Bedeutung nicht verloren hat. Auch in einer Welt, in der die brutale Wirklichkeit von Leichenschauhäusern, Kriegsopfern und Hospitälern längst schon für Kinder im Vorschulalter täglich im Morgenprogramm über den Fernsehbildschirm läuft, stehen Benns antilyrische Gedichte durch ihre Art der unsentimentalen Aneinanderreihung von Bildern; durch ihren unkommentierten, sarkastisch-unterkühlten, gefühllos wirkenden Ton in einer faszinierenden Art und Weise weit über dem geheuchelt anteilnehmenden allgemein gängigen betroffenen Gesichtsausdruck der heutigen Gesellschaft beim Anblick von Tod, Krankheit und Leid. Benns immerwährend kriegerische Auseinandersetzung mit der kleinbürgerlichen Gesellschaft um ihn herum; seine innere Emigration als Ausdruck seiner Resignation (und seiner persönlichen Konfliktlösung) waren, sind und bleiben herrschaftliche Modelle des Misanthropen, der sein Ich fest umrissen hat und es trotz Zweifel und inneren Umwürfen nicht von den „Weltbruchstücken“ erschlagen läßt. Benn erwählte die Kunst zu seinem Gott, zu seinem „Ja über den Abgründen“. Er stürzte die Vorstellungen von avantgardistischer Lyrik und Kunst seinerzeit; öffnete immer wieder neue Türen. Dadurch, daß Benn ständig, besonders in späteren Jahren, sein Werk und die eigene Person ausgiebig reflektierte und immense Selbstkritik übte, bot er wenig realistische Angriffsfläche für diejenigen, die sich ernsthaft mit ihm beschäftig(t)en. Seinen Spagat zwischen allen Stühlen meisterte er nur deshalb so fabulös, weil er stets bis in die letzte Gehirnwindung erörterte, besprach und erläuterte, was ihn zu seinem ausgeprägtem Stilwillen getrieben hat. Er stand (rückblickend) zugleich als intellektueller Repräsentant des Bewußtseins seiner Zeit (abseits von Modeströmungen vermochte er stets zu artikulieren, was den eigentlichen Geist der Nachdenkenden und Kritiker seiner Zeit ausmachte), als auch als Gegenpol zu allen Interpretationen eben jener Intellektuellen über den damaligen Zeitgeist. Es bleibt der heutigen Welt zu wünschen, daß Benns einmalige Art, die Welt um ihn herum zu kommentieren, niemals vergessen sein wird und sein waches Auge - in Schrift für die Ewigkeit festgehalten - noch viele Augen erwecken wird.

 
Susanne für nonpop.de



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