Wer eine
JACK OR JIVE-CD einlegt, weiß in der Regel genau, was ihn erwartet: Im Vordergrund die hinreißende, magische Stimme von CHAKO HATTORI, im Hintergrund die Instrumentierung dazu von ihrem Ehemann MAKOTO. Der hohe, schwebende Gesang bringt den Japanern immer wieder den "Heavenly Voices"-Stempel ein. Dazu trägt auch ihr französisches Label
PRIKOSNOVÉNIE bei, das sich hauptsächlich um Feenstimmen kümmert und als "Label für Heavenly Voices" rangiert. Dabei ist die Musik des Pärchens wesentlich düsterer und schmerzvoller als zum Beispiel Songs von
CHANDEEN oder
FAITH AND THE MUSE, um zwei der regelmäßig auf einschlägigen Samplern vertretenen Bands zu nennen. "Die
COCTEAU TWINS des Dark Ambient" ist eine Bezeichnung, die in Besprechungen immer wieder auftaucht und den Kern der Musik ganz gut trifft, weil sie sowohl die mystische Atmosphäre als auch den düsteren Unterton beinhaltet.
Das letzte reguläre Studioalbum "Absurdity" liegt vier Jahre zurück (2004), danach erschien zum ungefähr 20jährigen Bandbestehen (seit 1989) die 3-CD-Box "Issin" (2006) mit unveröffentlichten Songs, die
auf NONPOP besprochen wurde und einige einführende Worte zu Musik und Arbeitsweise von JACK OR JIVE enthält. Außerdem nahmen und nehmen sich die Japaner viel Zeit für die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern; so spielten sie mit
ALIO DIE und
IN GOWAN RING den improvisierten Soundtrack für eine DVD des US-Performancekünstlers
FRANCESCO PALADINO ein ("
Nocturnal Sessions", 2005) oder steuerten zusammen mit
LLOVESPELL einen Song für den Labelsampler "Rauschgau" (
SONDERÜBERTRAGUNG, 2008) bei.
Der Titel des neuen Albums macht deutlich, dass es hier noch viel schwermütiger zugeht als zum Beispiel auf einer der bisher dunkelsten Platten, dem Debut "Prayer" von 1990, das neun Jahre später bei
PRIKOSNOVÉNIE wieder aufgelegt wurde. "Kakugo" ist eine Lebensphilosophie der japanischen Samurai, die jedem Krieger den nahenden Tod permanent vor Augen hält. (Ähnlich äußert sich CHAKO in Interviews, etwa wenn sie nach wichtigen Dingen in ihrem Leben gefragt wird). Das Nachdenken über den Tod führt dazu, dass keine Zeit mit Nichtigkeiten verschwendet wird. Jeder lebt ehrenhaft und riskiert sein Leben für den anderen, wenn es nötig wird. Der von JACK OR JIVE und anderen (Neofolk)Künstlern wie
DOUGLAS P. verehrte japanische Schriftsteller
YUKIO MISHIMA, der im Beipackzettel von "Kakugo" als 'Inspiration' erwähnt wird, hat sich ausführlich mit solchen Traditionen der Samurai befasst, er schrieb unter anderem eine Einführung in das '
Hagakure' (1967), den Ehrenkodex der Samurai.
"Kakugo" beginnt ungewöhnlich und lockt auf eine falsche Fährte, denn die japanischen Samples und der Aufruhr im Hintergrund würden auch einer Military-Kapelle oder einem kriegslastigen Dark Ambient-Projekte gut stehen. Auch während Track 2 ("War Scapes", ein neu eingespieltes, älteres Stück von 1996) wummert das Maschinengewehr durch einen elektronischen Beat, allerdings schwebt hier schon die Stimme von CHAKO ein und besingt traurig und von oben den endgültigen Untergang der Welt. Es folgen einige typische, das heißt in ihrer Betrübtheit wunderschöne und berührende Songs, mal zu einer hoffnungslosen Pianomelodie, mal zu Orgeltönen oder Percussion. Nichts, was nicht auf jeder Beerdigung gespielt werden könnte. Dann wird "Kakugo" experimenteller, berührt Ambient (Wortfetzen zum Schwingen einer elektronischen Sitar), Avantgarde (CHAKOs Stimme über ein verlangsamtes, tiefes Hubschraubergeräusch) und sogar Downtempo (mit Chill-Glöckchen). Schließlich steht noch ein Besuch im 'World'-Fach an; die durcheinandergemischten Vocals von CHAKO klingen fast wie die berühmten bulgarischen Frauenchöre. Bevor ein Song allerdings zu ambientleicht wird, tauchen immer genug düstere Elemente auf, die das verhindern.
Das Album zeigt zwei Seiten von JACK OR JIVE. Die altbekannte und gute, mit wehmütigen Songs, in denen CHAKO eben nicht nur heavenly dahinwimmert, sondern der Traurigkeit und Melancholie ihrer Seele Ausdruck verleiht. Die hohe Frauenstimme, die ihre Sicht der Welt besingt, ergibt zusammen mit der neoklassischen Instrumentierung wieder die besondere Atmosphäre von JACK OR JIVE. (Durch die elegische und leidenschaftliche Sopranstimme erinnern mich diese Songs auf "Kakugo" eigentümlicherweise oft an
SIGUR RÓS. Manchmal auch an
COLLECTION D'ARNELL ANDREA vom selben Label.) Die Mehrzahl der neuen Songs besteht aber aus (manchmal langatmigen) Dark Ambient-Soundflächen, zu denen die Vocals einfach wie ein weiteres Instrument eingesetzt werden, verfremdet, gedoppelt oder anders bearbeitet. Dadurch geht viel von der Spontaneität und Intensität der bisherigen Arbeitsweise verloren, diese Tracks wirken gestylt und gewollt 'perfekt', auch wenn am Ende, vor allem im langen letzten Stück, wieder viel Kraft zurückkommt. Man könnte nun sagen: Keine schlechte Veröffentlichung, für jeden etwas dabei. Ich persönlich wünsche mir für das nächste Album, dass – über die Gesamtlänge gesehen – die Seele von JACK OR JIVE wieder deutlicher im Vordergrund steht.